Beratungshilfe: Es genügt nicht, wenn der Rechtspfleger auf kostenlose Beratung bei Behörden verweist. Der Bürger hat Anspruch auf einen begründeten
Ablehnungsbeschluss mit Rechtsmittelbelehrung.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT vom 19.4.2015 - 1 BvR 1849/11
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Der Fall:
Es ging um den Widerspruch gegen einen Rentenbescheid. Übertragbar ist dieser Fall aber gut ins Familienrecht,
nämlich immer dann, wenn der Rechtspfleger keinen Beratungshilfeschein ausstellt, auch keinen Ablehnungsbeschluss aushändigt, sondern bloß auf die kostenfreie Beratung des Jugendamtes hinweist, wenn der Rechtssuchende da schon vergeblich Beratung gesucht hat oder diese Beratung aus anderen Gründen keinen genügenden Rechtsschutz bietet
(Kindesunterhalt, Unterhaltsvorschuss, Umgangsrecht).
Leitsatz
1. Erachtet ein Amtsgericht einen Beratungshilfeantrag nach Erteilung mündlicher Hinweise durch den Rechtspfleger als erledigt, obwohl ausdrücklich eine anwaltliche Beratung gewünscht war, liegt ein Verstoß das gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit vor.
2. Der Begriff der Zumutbarkeit wird überdehnt, wenn der Rechtsuchende für das Widerspruchsverfahren an die
Beratungsstelle der Behörde, gegen die Widerspruch eingelegt werden soll, verwiesen wird.
3. Grundsätzlich muss über einen Antrag auf anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz, dem nicht in vollem Umfang entsprochen wird,
durch einen zu begründenden und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehenden Beschluss entschieden werden.
(Leitsatz der Redaktion des Anwaltsblatts)
Aus den Gründen:
Für die Einlegung eines Widerspruchs gegen die Ablehnung ihres Antrags auf eine Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
beantragte die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht einen Berechtigungsschein für eine anwaltliche Beratung nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen
(Beratungshilfegesetz, im Folgenden BerHG).
Der Rechtspfleger beim Amtsgericht wies die Beschwerdeführerin mündlich darauf hin, dass sie schriftlich oder zur Niederschrift Widerspruch bei der
Rentenversicherung einlegen oder sich an die im Bescheid genannte Auskunfts- und Beratungsstelle der Rentenversicherung wenden könne. Er stellte weder einen Berechtigungsschein aus noch beschied er
den Antrag förmlich.
Noch am selben Tag legte die Beschwerdeführerin „Erinnerung, hilfsweise Beschwerde“ beim Amtsgericht ein, mit der sie konkret darlegte, aus welchen
Gründen sie Widerspruch erheben wolle und aufgrund welcher Erkrankungen sie nicht in der Lage sei, das Widerspruchsverfahren ohne anwaltlichen Beistand zu betreiben. Die Richterin beim Amtsgericht
wies die Erinnerung mit Beschluss vom 10. Juni 2011 zurück. Beratungshilfe sei nicht abgelehnt, sondern durch die Hinweise des Rechtspflegers gewährt worden. Die Sache sei damit gemäß § 3 Abs. 2
BerHG erledigt. Eine Bescheidung einer Ablehnung komme daher nicht in Betracht.
(…) Es verstößt nicht gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit, wenn keine Beratungshilfe zugesprochen wird, weil ausreichende
Selbsthilfemöglichkeiten bestehen, aufgrund derer auch Bemittelte die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden (vgl. BVerfGK 15, 438 <444>). Ob
Rechtsuchende zumutbar auf Möglichkeiten der Selbsthilfe verwiesen werden können, haben die Fachgerichte unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Insbesondere
kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen
(vgl. BVerfGK 15, 438 <444>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. September 2010 - 1 BvR 623/10 -, juris, Rn. 13) oder ob Beratung durch Dritte für sie
tatsächlich erreichbar ist. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde (vgl. BVerfGK 15, 438 <444>;
15, 585 <586>; 18, 10 <13>).
(…) Auch soweit das Amtsgericht die Inanspruchnahme der Beratungsstelle des Rentenversicherungsträgers als andere zur Verfügung stehende
Hilfemöglichkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG für zumutbar erachtet hat, wird die Rechtsschutzgleichheit der Beschwerdeführerin verletzt. Der Begriff der Zumutbarkeit wird von den Fachgerichten
überdehnt, wenn ein Rechtsuchender - wie vorliegend die Beschwerdeführerin - für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem
Widerspruch richtet (vgl. BVerfGK 15, 585 <586>).
(…) Da sich der Beratungshilfeantrag der Beschwerdeführerin nicht durch die Erteilung seiner Hinweise erledigt hat, hätte der Rechtspfleger über die
Zurückweisung - nach § 5 BerHG in Verbindung mit §§ 38, 39 FamFG durch einen zu begründenden und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehenden Beschluss (vgl. Groß,
Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe, 12. Aufl. 2014, § 6 BerHG Rn. 4 und 18) - entscheiden müssen. Die hiervon abweichende Vorgehensweise des Rechtspflegers verkennt den
Anspruch der Beschwerdeführerin auf weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des außergerichtlichen Rechtsschutzes. Sie erschwert ohne erkennbaren Sachgrund
den Zugang der Beschwerdeführerin zu Rechtsberatung für das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren. Im Übrigen erschwert eine solche Verfahrensweise auch generell die Durchsetzung des Anspruchs
auf Beratungshilfe, weil ein vor Bewilligung von Beratungshilfe in der Regel noch nicht anwaltlich vertretener Antragsteller mangels eines mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Beschlusses nicht ohne
weiteres weiß, dass und wie er gegen die Versagung der Beratungshilfe vorgehen kann.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT vom 19.4.2015 - 1 BvR 1849/11
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